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Tiere im und am Rhein

 

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"Vom Bodensee bis Basel ist der Rhein kein eigentlicher Fluss mehr, sondern eine Kette von Stauseen."

Interview mit Johannes Jenny von ProNatura

DRe Pro Natura ist ja in den Bereichen Praktischer Naturschutz, Naturschutz- und Umweltpolitik, Öffentlichkeitsarbeit und Natur- und Umweltbildung tätig. In welchem Bereich ist es am schwierigsten, die Interessen der Pro Natura geltend zu machen? Welche Gründe stecken dahinter?
JJ Zusätzlich zu den genannten Bereichen ist der Bereich Umweltrecht/Ausübung Verbandsbeschwerderecht zu nennen. Dies ist gleichzeitig der Problematischste. Das Verbandsbeschwerderecht ist von potenten Beschwerdegegnerschaften anhand spektakulärer, von den Umweltverbänden ungeschickt kommunizierten Fällen vor Jahren zum Politikum gemacht worden und wurde mit den Kampagnen um mehrere Abschaffungsversuche derart in Misskredit gebracht, dass eine sorgfältige Arbeit in diesem Bereich kaum noch möglich ist.
DRe Sie fordern mehr Waldreservate, damit sich die Natur frei entfalten kann. Haben wir in der Schweiz effektiv zu wenig Wald? Wenn ja, in welcher Größenordnung?
JJ Aus unserer Sicht gibt es quantitativ genug Wald in der Schweiz. Jede Weltregion sollte jedoch unseres Erachtens einen Teil der typischsten Vegetation in ihrem Urzustand bewahren oder in einen naturnahen Zustand zurückführen. Nur in Mitteleuropa gibt es Buchenmischwälder. Weltweit gesehen ist der Schutz grosser zusammenhängender Buchenmischwälder zum Beispiel eine der wichtigsten Naturschutzaufgaben Mitteleuropas. Es gibt im Aargau verschiedene Waldreservate. Totalreservate und Reservate, welche Eingriffe zugunsten spezifischer Arten zulassen. Die Bedeutung des Waldes für die Erholungsnutzung, die Energieversorgung und als Kohlenstoffdioxid Senke nimmt zu. Es ist daher sinnvoll zu wissen, wo welche Waldfunktionen stattfinden sollen. Reiche Länder, die verlangen, dass die Regenwälder der Tropen erhalten werden, müssen die Walderhaltung auch vorleben. Im Jura und in den Alpen gibt es ausgedehnte, praktisch ungenutzte Waldflächen. Sie sind funktionelle Totalreservate. Pro Natura postulierte ein grösseres Totalreservat für jede Agglomeration.

Wasserspitzmaus Roberto

Oben: An der Birs entsteht
die grösste Aue des Kan-
tons Baselland
DRe Welche Folgen hat das Fehlen von Waldreservaten für Mensch und Tier?
JJ Von Totalreservaten profitieren vor allem Alt- und Totholzarten, weil im Nutzwald deren Lebensgrundlage fehlt. Waldreservate sind äusserst beliebte Erholungsgebiete. Ein Benefiz für den Menschen ist also ebenfalls da. Ein Nachteil ist nicht zu befürchten. Punktuell kann die Jagd, insbesondere die Treibjagd, durch Waldreservate schwieriger werden.
DRe In welchen Regionen halten sich die Grossraubtiere wie der Luchs, Wolf und Bär in der Schweiz auf?
JJ Im Kanton Graubünden zeigte sich kürzlich erstmals ein Bär. Wölfe kommen episodisch vor, vor allem im Wallis, werden aber meist nach kurzer Zeit wegen Konflikten mit der Schafhaltung zum Abschuss frei gegeben. Der Luchs hält sich auf vorläufig tiefem Niveau in den Alpen und im Jura auf.
DRe Wie stark sind diese drei Tierarten vom Aussterben bedroht?
JJ Der Alpenbär ist ausgestorben. Die heute in den Alpen lebenden, eingesetzten Tiere aus dem Balkan kommen gelegentlich in Konflikt mit der Landwirtschaft. Ansonsten besteht eine gewisse Chance, dass sich der Bär im Alpenraum wieder etabliert. Der Wolf konnte sich im Apennin halten und drückt über die Südalpen in die Schweiz. Sein Überleben hängt von der zukünftigen Landwirtschaftspolitik ab (siehe unten). Der Luchs hat durchaus Chancen, wenn seine Populationen in Kontakt bleiben untereinander. Ansonsten bestehen potentiell genetische Probleme.
DRe Ist es überhaupt möglich, diesen Tieren eine Zukunft in der freien Natur zu bieten, wo doch der Lebensraum immer kleiner wird?
JJ Der Lebensraum ist in den letzten Jahrzehnten massiv besser geworden, indem sich die Landwirtschaft aus vielen einsamen Tälern zurückzog. Die Wälder wurden, seit fossile Brennstoffe zur Verfügung stehen, unternutzt. Der Wald begann zu wachsen und bietet wieder bessere Strukturen für die Beutetiere. Diese sind vor ca. 100 Jahren wieder eingewandert und haben sich stark vermehrt. Konflikte mit der Landwirtschaft bestehen jedoch nach wie vor und diese müssen gelöst werden. Ein weiteres Problem stellt die Zerschneidung der Lebensräume durch Strassen und Siedlungsbänder dar. Ein sorgfältiges Ausscheiden und Optimieren von Wildtierkorridoren könnte das Problem lösen.
DRe Ihre Organisation setzt sich für die Revitalisierung von Fliessgewässern ein und hat in diesem Bereich schon einiges geleistet. Wissen Sie, wie stark der Rhein verbaut und kanalisiert ist?
JJ Vom Bodensee bis Basel ist der Rhein kein eigentlicher Fluss mehr, sondern eine Kette von Stauseen. Nur am Rheinfall und bei Zurzach fliesst er noch. Bei Zurzach hat Pro Natura Aargau ein grosses Auenrevitalisierungsprojekt ausgearbeitet. Zum Rhein oberhalb des Bodensees ist mir aktuell nichts bekannt, da müsste man bei den entsprechenden Kantonalsektionen anfragen. Grundsätzlich sind die Chancen für eine Revitalisierung dort jedoch besser, da der Rhein zwar verbaut, aber weniger hydroelektrisch genutzt ist. Das Hauptproblem ist allgemein der notwendige umfangreiche Landerwerb.
DRe Am Rhein gibt es ja mehrere Naturschutzgebiete, u. a. der „Alte Rhein“ bei St. Margrethen oder der „Alte Rhein“ bei Rüdlingen. Wie sieht es in der Zukunft aus, gibt es weitere Projekte?
JJ Wie gesagt, ausser dem Auenrevitalisierungsprojekt bei Zurzach ist mir momentan nichts bekannt. Neue Projekte müssen sorgfältig geprüft werden. Besonders wichtig sind Projekte, welche die natürliche Auendynamik miteinbeziehen, da sonst Gebiete mit hohen Unterhaltskosten entstehen.
DRe Gibt es auch Versuche von „Gegnern“, bestehende Naturschutzgebiete zum Beispiel durch Umnutzung zu Bauzonen, zu verkleinern?
JJ Nein. Sind Schutzgebiete rechtskräftig ausgeschieden, ist die Bedrohung relativ gering. Potentielle Schutzgebietsflächen von hohem ökologischem Wert können jedoch regelmässig nur mit grossem Aufwand der Schutzorganisationen sachgerecht zoniert werden.

Wasserspitzmaus Roberto

Oben: Der Wolf
kommt heute
wieder von
Süden in
die Schweiz
DRe Im Zusammenhang mit unserer Arbeit haben wir uns auch mit Flusskraftwerken und Stauseen beschäftigt. Wie steht Pro Natura zu solchen technischen Einrichtungen, die Land „überschwemmen“?
JJ Das Problem ist in der Schweiz weniger die Überschwemmung von Land als die Veränderung von Abflussregime und Geschiebehaushalt. Wasserkraft ist eine erneuerbare Energie und soll dort genutzt werden, wo es Sinn macht. Wir sind jedoch zum Beispiel gegen Kleinwasserkraftwerke in Auengebieten von nationaler Bedeutung und gegen den Bau der letzten möglichen neuen Kraftwerke an den wenigen verbleibenden Fliessstrecken.
DRe Wie ist die Haltung von Pro Natura gegenüber der Stromproduktion in der Schweiz, die zu 60% mit Wasser- und zu 38% mit Atomkraftwerken gedeckt wird?
JJ Der Atomausstieg soll vorbereitet werden, das heisst, die Schweizer Atomkraftwerke sollen stillgelegt werden, sobald sie die Sicherheitskriterien nicht mehr erfüllen, und nicht durch neue ersetzt werden. Die bestehenden Wasserkraftanlagen sollen soweit möglich saniert werden, damit sie die ökologischen Anforderungen stehender und fliessender Gewässer erfüllen. Zur Deckung des Strombedarfs sollen erneuerbare Energiequellen wie Solarenenergie, Biomassennutzung und Geothermie gefördert werden. Pro Natura selbst will mit gutem Beispiel vorangehen und bei ihrer eigenen Arbeit darauf achten, den Energieverbrauch möglichst gering zu halten.
DRe Wie sehen Sie die Zukunft des Rheins?
JJ Es werden keine neuen Kraftwerke mehr gebaut. Bestehende werden erneuert, die Produktion erhöht und wo es unumgänglich ist, werden Stauwurzeln verkürzt. Die Anlagen werden aber auch bezüglich Geschiebetrieb und Durchgängigkeit für die im Wasser lebenden Tiere optimiert. Die verbleibenden Fliessstrecken mit Potential werden revitalisiert und so gestaltet, dass die Hochwasserspitzen gebrochen werden.
DRe In der Schweiz wird überall gebaut und das natürlich auf Kosten der Natur. Welche Massnahmen können Sie ergreifen, damit bei den Bauprojekten Rücksicht auf die Natur genommen wird?
JJ Wir versuchen in erster Linie, politische Informationsarbeit zu leisten. Die Chancen stehen derzeit nicht schlecht, dass unsere raumplanerischen Untersuchungen von der Politik ernst genommen und eine einigermassen nachhaltige Entwicklung eingeleitet wird. Kleinräumig arbeiten wir mit Bauherrschaften und Ausführenden zusammen, um Projekte zu optimieren. Als ultima ratio bleibt uns das Verbandsbeschwerderecht, das wir jedoch, zumal in den letzten Jahren, sehr zurückhaltend anwenden.
DRe Wie viel Land geht bei dem momentanen Bau-Boom jährlich ungefähr verloren?
JJ Ca. 1 m2 pro Sekunde!
DRe Wie sehen sie die Zukunft der Natur in der Schweiz? Wird die Situation immer schlimmer oder können wir die Natur weiter erhalten?
JJ Auf lange Sicht kann der Mensch die Natur höchstens umgestalten, aber nicht zerstören. Man stelle sich vor, wie es nach der nächsten Eiszeit aussieht! Die Natur hat andere Zeithorizonte als wir. Die Frage ist jedoch, ob und wie weit wir bereit sind, naturnahe Lebensräume für uns und die nächsten Generationen zu erhalten. Es gibt keine Alternative zu raumplanerischen Massnahmen. Ein weiterer Ausbau der Infrastrukturen (Strasse, Schiene, Ver- und Entsorgung) ist nicht realistisch. Bis das Umdenken Früchte in der Landschaft trägt, wird es jedoch noch einige Zeit gehen. In unmittelbarer Zukunft wird sich die Politik mit Energie- und Rohstoffversorgungsfragen beschäftigen müssen. Es ist unsere Aufgabe zu verhindern, dass die Anliegen von Natur- und Landschaft dann in den politischen Schubladen verschwinden.

 

Interview aufgezeichnet von Shesan Khan